Berlin/Wedel (dapd). Viele Mitarbeiter in sozialen Berufen müssen sich täglich mit den belastenden Erlebnissen ihrer Schützlinge auseinandersetzen: Heimbewohner schildern Pflegekräften Gräueltaten aus dem Krieg, Mitarbeiter der Telefonseelsorge erfahren durch die Anrufer von Familiendramen, Jugendamtsmitarbeiter lesen seitenweise Details über Kindesmissbrauch. Manchmal passiert es, dass das Gehörte oder Gelesene im Kopf hängen bleibt und die Betroffenen nicht mehr loslässt. In der Fachsprache heißt das: Sekundärtraumatisierung.
"Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder Mitarbeiter in Jugendämtern und der Justiz sind gefährdete Berufsgruppen", betont Judith Daniels, Psychologin und Traumaexpertin an der Charité in Berlin. Anders als geschulte Traumatherapeuten träfen die detailgetreuen Erzählungen sie manchmal völlig unvorbereitet, ohne dass sie vorher eine "professionelle innere Distanz" einnehmen können.
Manche Mitarbeiter entwickelten ähnliche Symptome wie Traumaopfer selbst: Sie leiden an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Albträumen und plötzlich in den Kopf schießenden Bildern. Bemerkbar mache sich ein Sekundärtrauma häufig auch durch ständige Gereiztheit und die Unfähigkeit, sich selbst zu regulieren. "Geht es in den belastenden Bildern beispielsweise um sexuellen Missbrauch, ist es Sekundärtraumatisierten oft nicht mehr möglich, selber entspannte Sexualität zu erleben", sagt die Expertin.
Distanz zu Klienten halten
Die Psychologin untersuchte, wie häufig Sekundärtraumatisierungen in Berufsgruppen mit hohem Risiko auftreten, wie lange diese anhielten und chronisch wurden. In der von ihrem Team durchgeführten Online-Befragung von 1.124 Mitarbeitern gaben 29 Prozent an, schon einmal entsprechende Symptome entwickelt zu haben. Etwa die Hälfte davon hatte der Studie zufolge das Trauma nach vier Wochen verarbeitet. Bei elf Prozent der Befragten seien die Symptome nie ganz weggegangen. Die übrigen rund 40 Prozent benötigten länger als vier Wochen dafür.
Welche Mechanismen genau eine Sekundärtraumatisierung auslösen, ist noch nicht ausreichend erforscht. Bekannt sei, dass die nahegehenden Details auf anderem Wege im Gehirn abgespeichert werden als die übrigen Informationen. "Eine Sekundärtraumatisierung wird ausgelöst, wenn man den Kontakt zu den eigenen Emotionen verliert und keinen Bezug mehr dazu hat, wie es einem selbst geht", beschreibt Daniels den Vorgang. Das könne Berufsanfänger genauso treffen wie erfahrene Kollegen. "Man kann 99-mal Traumadetails gut verkraftet haben und das Hundertste trifft plötzlich ins Schwarze." Häufig passiere das, wenn sich jemand stärker mit dem Opfer identifiziere oder Parallelen zum eigenen Leben zieht. Aber auch Entspannungszeiten während des Dienstes oder Pausen, in die ein anderer Mitarbeiter mit "Traumadetails" platzt, können manchen "kalt erwischen". Ein Ort mit "hohem Risikofaktor" sei daher das Schwesternzimmer.
Besonders verwundbar sind nach Aussagen der Gesundheitspsychologin Julia Scharnhorst empathische und sehr engagierte Menschen sowie Mitarbeiter, die sich nicht gut abgrenzen können. Auch eine zu große Menge an zu betreuenden Fällen mit Traumaerlebnissen aufgrund von Personalknappheit könne das Risiko steigern, selbst traumatisiert zu werden, betont die Psychologin aus dem schleswig-holsteinischen Wedel.
Allerdings gebe es auch Methoden, sich zu schützen. "Damit man irgendwann nicht nur noch Negatives sieht, sollten Menschen in diesen Berufen für ausreichend Ablenkung und Entspannung von ihrer Arbeit sorgen", rät die Expertin. Sie empfiehlt, Achtsamkeit gegenüber den eigenen Empfindungen zu entwickeln und sich nicht zu stark in die Leiden des Klienten oder Patienten hineinzuversetzen. "Man sollte versuchen, eine professionelle Distanz zu seinem Gegenüber zu wahren und nicht fragen: ‚Wie würde es mir an dessen Stelle gehen’", sagt Scharnhorst. Sonst lasse man dessen Erlebnisse zu dicht an sich heran. Damit sei weder einem selbst noch dem anderen geholfen. Rituale erleichtern es, die Grenze zu ziehen: Die Akte zuzuschlagen, den Kittel auszuziehen, das Büro abzuschließen, sind Handgriffe, die Mitarbeiter ganz bewusst machen und sich dabei sagen sollten: "Jetzt bin ich Privatperson und erlebe etwas Schönes."
Alkohol behindert Verarbeitung
Wer ein Sekundärtrauma entwickelt hat, sollte vor allem genügend schlafen, empfiehlt Trauma-Expertin Daniels. Denn Albträume raubten den Betroffenen erholsamen Schlaf. Ebenso wichtig sei viel Bewegung: "Sport ist das beste Anti-Depressivum und auch gut zur Vorbeugung geeignet." Notwendig seien mindestens dreimal pro Woche 30 Minuten Bewegung. Von Alkohol zur Bekämpfung der Bilder im Kopf rät Daniels ganz ab, denn er könne den natürlich ablaufenden Verarbeitungsprozess stören. Außerdem bestehe in Kombination mit Traumata möglicherweise ein hohes Risiko, eine Sucht zu entwickeln.
Fühlen sich Mitarbeiter nach vier Wochen immer noch von Bildern und Träumen verfolgt, sollten sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. "Das größte Problem ist, dass diese Mitarbeiter es nicht wahrhaben wollen oder glauben, sie hätten etwas falsch gemacht. Aber das ist Quatsch", sagt die Charité-Psychologin. "Sekundärtraumatisierung ist eine ganz normale Reaktion auf unnormale Information." Betroffene sollten sich daher dieselbe Unterstützung erlauben wie ihren Klienten. In der Regel genügten zwei bis fünf Sitzungen mit einem Supervisor oder Traumatherapeuten, um seinen Job wieder unbelastet angehen zu können.
dapd