Amsterdam (dapd). Der Blick gen Norden war lange Zeit wenig beeindruckend. Wer mit dem Zug in Amsterdam angekommen ist, hat auf der anderen Seite des Flusses Ij überwiegend urbane Brache und ein Hochhaus wahrgenommen, das so gar nicht zu der Stadt passen wollte. Neuerdings aber liegt dem 60er-Jahre-Klotz ein eleganter weißer Bau zu Füßen, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
"Das ist das Filmmuseum Eye", sagt Sabine Lebesque auf der Fähre, die das Gewässer innerhalb von zwei Minuten überquert. "Der Name ist eine Anspielung an den Standort am Ij. Und natürlich an das Seherlebnis im Kino." Seitdem der ufo-ähnliche Bau 2012 seine Pforten geöffnet hat, zieht es immer mehr Besucher in den vergessenen Teil der Stadt.
Das Museum lockt neben Cineasten auch Touristen, die das ohnehin so museale Amsterdam mit neuen Augen sehen möchten. Der Ausblick nämlich umfasst sowohl die Silhouette der Altstadt mit ihren mittelalterlichen Türmen, als auch die auffällig kreativen Bauten, die in den vergangenen Jahren entlang der Ufer des Gewässers entstanden sind: Die Bibliothek mit einer Panorama-Aussichtsplattform im neunten Stock, das "Muziekgebouw" – ein futuristisches Konzertgebäude – und der Terminal, an dem die Kreuzfahrtschiffe nun anlegen.
Kostenlose Mini-Kreuzfahrt
Auf dem Weg zurück in die Stadt erklärt die Kunsthistorikerin, dass das Viertel vor allem bei jungen Kreativen sehr populär ist. Um das zu veranschaulichen, zieht uns Lebesque auf die nächste Fähre. Die legt unmittelbar nebenan ab, bis zu ihrem Zielort aber benötigt sie rund eine Viertelstunde. Vorbei an einem alten U-Boot, ausgemusterten Kähnen und kühnen Beispielen für zeitgenössische Architektur, schippern wir zur NDSM-Werft. Eine Minikreuzfahrt durch den zurzeit spannendsten Teil Amsterdams, die noch dazu kostenlos ist, denn die Fähren über das Ij gehören zum öffentlichen Nahverkehr.
"Die Werft", sagt Lebesque nach der Ankunft, "war mal die drittgrößte der Welt". Heute ist der Ort, wo einst Ozeanriesen gebaut wurden, eine Spielwiese für Leute mit frischen Ideen. In einer der Hallen macht uns Lebesque mit Koen Heebing bekannt, der mit seinen Kollegen an der Eröffnung des "Boxpark" arbeitet. "Im Sommer", erklärt er, "machen wir hier eine Art alternative Shopping-Mall auf". Dazu können sich Geschäfte in Containern einquartieren, die flexibel in der Halle platziert werden. Abends dann sollen mobile Galerien ihr eigenes Publikum anziehen.
Kaffee im Container
Ein paar Schritte weiter ist ein ähnliches Prinzip bereits Realität. Die 84 000 Quadratmeter große Werfthalle heißt Scheepsbouwloods" – und sie beherbergt rund zwei Dutzend experimentelle Atelierbauten, in denen Bühnenbildner, Grafiker, Designer und Architekten ihr Quartier aufgeschlagen haben. Nach einem Rundgang durch diese Hochburg der Kreativen ist es an der Zeit für eine Stärkung. Vorbei an antiken Straßenbahnwagen und überflüssig gewordenen Hafenkränen, führt uns Lebesque zu einem ebenso rostigen wie unscheinbaren Containerensemble.
Darin befindet sich das Café "Pllek" – mit plüschigem Mobiliar und Panoramafenstern, an denen Schiffe jeder Größenordnung vorbeiziehen. Während sie in einem tiefen Sofa einen Kaffee trinkt, erzählt Lebesque, wie wichtig es für Amsterdam ist, über einen Ort wie diesen zu verfügen: "Die Stadt ist sonst sehr teuer. Und nur durch die Entwicklung des Nordens können wir uns einigermaßen sicher sein, dass wir auch in Zukunft tonangebende Künstler hervorbringen werden."
Wie ein Besuch im soeben nach achtjährigem Umbau wiedereröffneten Stedelijk Museum beweist, hat es daran in der Vergangenheit nie gehapert. In einem separaten Flügel umfasst die Sammlung Klassiker wie Stühle von Gerrit Rietveld bis hin zu den neobarocken Vasen von Marcel Wanders.
Experiment im Grachtengürtel
Der Star unter den zeitgenössischen niederländischen Designern hat sich im vergangenen Jahr seinerseits daran versucht, mitten im historischen Grachtengürtel neue Akzente zu setzen: Im Hotel Andaz, das ihm anteilsweise gehört, hat er die Geschichte seines Landes in eine charismatische Formensprache übersetzt. Mit Waschbecken, bei denen er das klassische Delfter Porzellan neu interpretiert, mit Tapeten, welche die reiche Historie Amsterdams abbilden – und mit Sprüchen des Fußballnationalhelden Johan Cruyff auf den Toiletten.
Nach so vielen neuen Eindrücken sind wir fast erleichtert, dass auch das "alte Amsterdam" in nahezu unveränderter Form fortbesteht. Wir schlendern durch das ehemalige Arbeiterviertel "Jordaan", wo wir auf der Elandsgracht die Schwäne beobachten. Wir schauen auf die majestätische Westerkerk, auf deren Spitze eine stilisierte Erdkugel thront. Und wir kehren ein im Café "De 2 Zwaantjes", wo der im Hawaiihemd gekleidete Barkeeper niederländische Schlager zum Besten gibt.
Zu guter Letzt beschließen wir, uns eine nächtliche Rundfahrt über die Grachten zu gönnen. Unterwegs begegnen uns all die Merkmale, die diese Stadt so einzigartig machen: Die Patrizierhäuser mit ihren vier verschiedenen Giebelformen und den gemütlichen Wohnzimmern, das gelbe Licht der Laternen, das sich im Wasser spiegelt, und all die beleuchteten Brücken. Erst als das Boot auf das Ij abbiegt und unser Blick auf das "Eye" fällt, werden wir sanft aus unseren schwelgerischen Träumen herausgerissen. Wir befinden uns tatsächlich im Jahr 2013 – eine Tatsache, die man in Amsterdam gerne mal vergisst.
(Die Reise wurde vom Niederländischen Büro für Tourismus und Convention unterstützt)
dapd