Kassel (dapd). Die Stadt an der Fulda ist weltberühmt für die Kunstausstellung documenta. Und dann vielleicht noch für die Brüder Grimm, die dort einst studierten und fleißig Märchen sammelten. Aber sonst? Kassel gilt als eher unscheinbar und langweilig und ist nicht gerade das Traumziel von Städtetouristen. "Doch dieses Image hat Kassel nicht verdient", sagt Helge aus Schleswig-Holstein, derzeit auf Besuch in der Stadt. Der Mann, Vollbart, Mitte 40, muss es wissen. Er hat zwei Jahre hier studiert und kommt gerne zurück. Besonders alle fünf Jahre: zur documenta. Wenn die Stadt sich 100 Tage lang weltstädtisch fühlen darf wie Berlin oder Paris. Weil dort Künstler seit 1955 Kunst ausstellen – und zwar nicht in einer einzigen Halle oder einem Museum. Überall: drinnen wie draußen. Die ganze Stadt wird zur Ausstellungsfläche.

Der Kassel-Fan steht vor einem Geschäft in der Innenstadt. Sie schaut nicht aus, wie Reisende sich üblicherweise Innenstädte gern vorstellen: alt und verwinkelt. Kassel kann nichts dafür. Es wurde 1943, gegen Ende des Krieges, ziemlich viel weggebombt. Dass die Stadt einmal "Klein Paris" hieß, ist heute kaum zu glauben. Statt Fachwerk, Klassizismus oder Gotik dominieren viel Beton und Nachkriegsarchitektur. Verkehr rauscht über breite Straßen. Das Klima, nicht immer mild, gibt der Stadt den Beinamen "hessisches Sibirien". Ihr Charme erschließt sich nicht auf Anhieb. Ähnlich wie im Ruhrpott. Tipps? "Unbedingt: Herkules, Orangerie, Grimm-Museum. Und die Karlsaue! Am besten Fahrrad mieten und einmal durchradeln", sagt Helge.

Also lautet der Plan: Vorurteile abbauen. Kassel erkunden. Jetzt, im November, da die Stadt wieder den Kasselern gehört. Die Stadt beheimatet einige Superlative: mit der documenta nicht nur die weltgrößte Ausstellung zeitgenössischer Kunst, sondern mit dem Fridericianum aus dem Jahr 1779 eines der ältesten öffentlichen Museumsgebäude Europas. Und mit Joseph Beuys "7.000 Eichen" die größte Außenskulptur der Welt. Der Bergpark Wilhelmshöhe ist aufgrund seiner Ausmaße derzeit auf dem besten Weg zum Weltkulturerbe – die Bewerbung läuft.

Friedrich II. holte einst Künstler und Gelehrte in die Residenzstadt. Damals haben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm hier ihre Märchen gesammelt und Denis Papin, der Erfinder des Dampfkochtopfs, schaffte die technischen Voraussetzungen für die Wasserkünste im Bergpark. In den 1950ern machten die erste Fußgängerzone und die modernste Kreuzung Deutschlands von sich reden. Das Magazin "Wirtschaftswoche" wählte Kassel 2011 unter die Top-3 der lebenswertesten Städte in Deutschland – vor Stadtschönheiten wie München.

Was wäre die Stadt ohne die Brüder Grimm?

Generationen von Kindern sind mit den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm aufgewachsen. Ihre Kasseler Zeit, gut dreißig Jahre, beschrieben sie als die "arbeitsamste und vielleicht die fruchtbarste Zeit" ihres Lebens. Nicht nur Märchen und Sagen trugen sie zusammen – und zwar vor genau 200 Jahren -, auch die "Deutsche Grammatik" und das "Deutsche Wörterbuch". 1814 nahmen die Brüder Quartier im zweiten Stock der nördlichen Torwache am Beginn der Wilhelmshöher Allee. Vor dem Gebäude steht seit 1985 das Brüder-Grimm-Denkmal. 1822 zogen sie ein paar Häuser weiter, in die Schöne Aussicht, in die Nähe des "Palais Bellevue". Seit 1972 beherbergt der Spätbarock-Bau das Grimm-Museum. Wer sich drinnen umschaut, läuft über knarrende Dielen und beugt sich über alte Märchenbände unter Glas. Interessantes Detail: Auch das Schaffen ihres jüngeren – viel unbekannteren – Malerbruders Ludwig Emil Grimm wird vorgestellt.

Bergpark Wilhelmshöhe und Stadtpark Karlsaue

Weiter mit dem Rad, ins Grüne: zur Karlsaue, gleich unterhalb des Friedrichplatzes und der documenta-Halle. Einheimische joggen hier, Studenten sitzen dick eingepackt am Kanal und am See, schlürfen "Coffee to go". Andere gehen mit ihren Hunden spazieren. Die Hauptallee führt zur Orangerie. Der "exotische Wintergarten" lohnt nicht nur wegen des Restaurants und der schönen Architektur: Im Schloss befindet sich das astronomisch-physikalische Kabinett. Bereits in der Eingangshalle schwingt ein Foucaultsches Pendel über der Erde. Und weiter drinnen beweist der Zuse Z11, was für raumfüllende Monster die ersten Computer waren.

Weiter zur wichtigsten Grünzone der Stadt: Wilhelmshöhe – einer der größten Bergparks Europas, hübsch am Hang des Naturparks Habichtswald gelegen. Hier treffen zwei Epochen europäischer Gartenkunst aufeinander – barocke Kaskaden und englischer Landschaftsgarten. Unübersehbar: Herkules, das Wahrzeichen von Kassel. Der acht Meter hohe Kupferkoloss dominiert alles im Bergpark. Landgraf Karl von Hessen-Kassel ließ 1700 bis 1717 das Oktogon ("Riesenschloss") mit der Figur als Abschluss der 1,5 Kilometer langen Kaskadenanlage errichten. Eine breite Steintreppe führt auf eine Besucherplattform in 28 Meter Höhe. Von hier aus hat man einen sagenhaften Blick auf den Park und die Kasseler Innenstadt. Das Wasser sprudelt über die Kaskaden bis hinab zur letzten Station der Großen Fontäne im Schlossteich, die das Wasser durch natürlichen Druck 50 Meter in die Höhe schießen lässt. Die Wasserkunst war eine architektonische und ingenieurtechnische Ausnahmeleistung. Sogar die Wasserspiele in Versailles können da nicht mithalten.

Kassel hat nicht unbedingt Sex-Appeal, aber die Stadt funktioniert: Sie hat ein großes Shoppingangebot, eine autogerechte Fußgängerzone, viele Cafés, gute Parkmöglichkeiten, viel Grün. Und durch ihre Höhen und Tiefen, mit Straßenverläufen ähnlich denen in San Francisco, ziemlich viele Sichtachsen. Und selbst wenn dann in der Nach-documenta-Zeit ein bisschen Sehnsucht nach der großen Kunst aufkommt, gibt es Abhilfe. Denn in den documenta-Orten – documenta-Halle, Neues Palais, Fridericianum – ist ganzjährig viel spannende Kunst zu sehen. Außerdem kauft die Stadt nach jeder documenta ein: Wie "Die Fremden" von Thomas Schütte am Portikus des Roten Palais oder den "Himmelsstürmer" von Jonathan Borofsky auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof. Über Kunst stolpert jeder – ob nun gerade documenta ist oder nicht. Ob man sie als solche erkennt, ist eine andere Frage.

dapd