München/Tübingen (dapd). Die Wohnorte erwachsener Kinder und ihrer Eltern liegen oft Hunderte Kilometer voneinander entfernt. Zu besonderen Anlässen besucht man sich gegenseitig, zwischendurch wird telefoniert – viele Jahre funktioniert das gut. Doch irgendwann kommt in vielen Familien die Frage auf: Sollten wir nicht lieber wieder zusammenziehen?
"Meistens fangen solche Überlegungen damit an, dass die erwachsenen Kinder merken, wie hilfsbedürftig ihre Eltern geworden sind", sagt Gertrud Teusen, Autorin des Ratgebers "Da sein – Nah sein: Wie wir unseren alten Eltern guttun können". Manche Senioren erwägen so einen Umzug aber auch deshalb, weil sie näher bei ihrer Familie sein und ihre Enkel aufwachsen sehen möchten. "Wer im Alter nur noch wenige Kontakte zu den Menschen in seinem Heimatort hat, hofft oft auch, auf diese Weise der Einsamkeit zu entfliehen", ergänzt die Tübinger Diplom-Psychologin Helga Lauchart.
Das Zusammenleben von Jung und Alt im Familienverbund kann funktionieren, da sind sich beide Expertinnen einig. Allerdings sollten gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein: "Es muss genügend Raum für die Senioren da sein, am besten auch ein eigenes Bad", sagt Gertrud Teusen. Ideal sei eine Einliegerwohnung, in der es auch eine Kochmöglichkeit gebe. "Ich rate auf jeden Fall davon ab, den Raum für den neuen Mitbewohner einem Familienmitglied wegzunehmen – beispielsweise, indem man ein Kinderzimmer umfunktioniert", sagt die Autorin aus München. Da seien Unstimmigkeiten programmiert.
Abschied von liebgewonnenen Menschen und Orten
Wichtig ist außerdem, dass sich beide Seiten vorher gut überlegen, ob dieses Lebensmodell für sie wirklich infrage kommt. "Für viele Senioren ist es ein sehr großer Schritt, ihr gewohntes Umfeld für immer zu verlassen", sagt Gertrud Teusen. Man lasse nicht nur liebgewonnene Menschen und Orte zurück, sondern müsse oft auch seinen Hausstand verkleinern und sich von Erinnerungsstücken trennen. "Das ist für viele wie ein Bruch mit der eigenen Geschichte, und oft bleibt etwas Trauer um das Verlorene zurück", sagt Teusen.
Sicher könne man auch am neuen Wohnort wieder Kontakte knüpfen und neue Leute kennenlernen. "Allerdings sind die Menschen der älteren Generation oft nicht so gruppenerfahren und finden nicht so leicht Anschluss", gibt Helga Lauchart zu bedenken. Und Gertrud Teusen ergänzt: "Senioren sollten sich nicht darauf verlassen, dass ihre Kinder und Enkel von nun an all ihre sozialen Bedürfnisse erfüllen werden. Der Alltag der Familie läuft schließlich weiter."
Familientrubel ist nicht jedermanns Sache
Eine weitere Frage ist, ob die Senioren den Alltag mit der Familie auf Dauer überhaupt genießen können. "Während die Enkel für manche im Alter ein wahres Lebenselixier sind, werden Kinderlärm und Trubel anderen schnell zu viel", sagt Lauchart. Oft hofften Eltern auch, dass Oma oder Opa nach ihrem Umzug regelmäßig als Babysitter einspringen und ihnen den Rücken freihalten. "Ältere sollten sich daher überlegen, wie viel Unterstützung sie geben können und wollen", sagt die Autorin des Ratgebers "Wenn die Eltern älter werden" (unter dem Namen Helga Käsler-Heide). Manchen tue es durchaus sehr gut, im Familienalltag mithelfen zu können und gebraucht zu werden.
Auch für die jüngere Generation gibt es viel zu klären: "Wenn die alten Eltern in die Nähe oder gar mit ins Haus ziehen, verändert das den kompletten Alltag der Familie", betont Helga Lauchart. Man könne dann nicht weitermachen wie bisher, sondern müsse die Senioren auch in das eigene Leben einbinden. Die Entscheidung, ob man diesen Schritt tun möchte, sollte die Familie auf jeden Fall gemeinsam treffen, betont Gertrud Teusen. "Nicht nur die Partner, sondern auch die Kinder müssen mit diesem Entschluss einverstanden sein."
Auch wenn Mutter oder Vater eigene Räumlichkeiten bewohnten, könne es sein, dass sie die meiste Zeit bei den Kindern und Enkeln verbringen, sagt Teusen. Man müsse sich daher auch überlegen, wie das sein wird, wenn Opa täglich pfeiferauchend am Küchentisch sitzt oder Oma von nun an das Fernsehprogramm bestimmen möchte, geben die beiden Expertinnen zu bedenken. Auch für die Partnerschaft könne die neue Lebenssituation anstrengend werden. "Man hat einfach noch weniger Gelegenheiten, miteinander allein zu sein", sagt Teusen.
Das Thema Pflege vorher klären
Wenn Eltern und ihre erwachsenen Kinder zusammenziehen, steht immer auch die Frage im Raum: Was passiert, wenn die älteren Menschen pflegebedürftig werden? "Senioren sollten sich erst einmal überlegen, ob sie sich überhaupt vorstellen könnten, von ihren Kindern gepflegt zu werden", sagt Lauchart. Und auch die Kinder müssten sich damit auseinandersetzen, wie es sein wird, wenn Oma und Opa mal nicht mehr so fit sind.
"Wichtig ist, dass man alle Vorstellungen und Bedenken offen anspricht, bevor man sich fürs Zusammenziehen entscheidet", sagt Helga Lauchart. Auch schwierige Themen sollte man nicht zurückhalten – früher oder später kämen sie ohnehin auf den Tisch. "Senioren sollten also deutlich sagen, wenn sie beispielsweise erwarten, dass ihre Kinder sie eines Tages pflegen", sagt die Diplom-Psychologin. Ebenso sollte die jüngere Generation etwa ihre Hoffnung auf eine Mitwirkung bei der Kinderbetreuung äußern. Nur so könne man herausfinden, ob beide Seiten ähnliche Ansprüche haben oder ob Konflikte zu erwarten sind.
Damit das Zusammenleben harmonisch verläuft, sei es wichtig, gemeinsame Regeln zu vereinbaren – etwa, dass jeder das Recht hat, sich zurückzuziehen. "Am besten trifft man sich außerdem regelmäßig zu einer Familienkonferenz, bei der man offen über Probleme und Fragen sprechen kann", rät Gertrud Teusen. Die neue Nähe funktioniere nur, wenn Jung und Alt viel Verständnis und Rücksicht füreinander aufbringen.
dapd