München (dapd). Kinder mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten fordern die ganze Aufmerksamkeit der Eltern. Für die gesunden Geschwister bleibt dann meist weniger Zeit und Zuwendung.
"Die Eltern behinderter Kinder haben einen Tunnelblick. Sie wissen, dass auch die anderen Kinder ihre Zuwendung brauchen, trotzdem gleitet die Aufmerksamkeit immer wieder auf das behinderte Kind", betont die Münchner Buchautorin Ilse Achilles ("… und um mich kümmert sich keiner", Ernst Reinhardt Verlag). "Diese Geschwister haben weniger Zugang zu ihren Eltern, lernen schon früh, selbstständig zu sein, Verantwortung zu übernehmen und sich zurückzunehmen", betont die Mutter zweier Töchter und eines behinderten Sohnes.
Dennoch sollten Eltern regelmäßig Freiräume schaffen, in denen sie nur für die gesunden Geschwister da sind. Zum Beispiel: Einmal pro Woche für einen Nachmittag dürfen die anderen Geschwister allein mit Mama oder Papa etwas unternehmen oder einfach nur spielen. Für diese Zeit muss dann eine Betreuung für das behinderte Kind organisiert werden. Wo keine Großeltern zur Verfügung stehen, könne der familienentlastende Dienst in Anspruch genommen werden. "Diese Zeit muss aber heilig sein und unbedingt eingehalten werden", betont die Autorin. Eltern könnten auch abends am Bett fünf oder zehn Minuten für jedes Kind exklusiv da sein, zuhören und über dessen Sorgen und Wünsche reden. Eine andere Möglichkeit sei, dass jeden Sonntag ein Familienmitglied bestimmen darf, was gemacht wird. So fühlten auch die anderen Geschwister, dass die Familie etwas für sie tut.
Geschwister über Behinderung aufklären
Die betroffene Mutter ermuntert Eltern, mit den Geschwistern offen über die Behinderung oder Krankheit zu reden. "Oft plagen die Geschwister Schuldgefühle, weil sie gesund sind", betont die Autorin. Ursache und Wirkung stellten sie in ihren eigenen erdachten Zusammenhang, etwa: "Weil ich intelligent bin, ist für meinen Bruder nichts mehr übrig geblieben." Oder: "Weil ich meine Schwester damals von der Schaukel gestoßen habe, hat sie jetzt Leukämie." Bei krebskranken Kindern sollten die Eltern ihre Sorge und Trauer nicht verschweigen oder übertünchen, sondern die Geschwister einbeziehen und darüber aufklären. "Es ist besser, als Familie gemeinsam zu trauern, als Kinder auszuschließen. Die haben ein sehr feines Gespür und wissen, dass irgendetwas nicht stimmt", erläutert Achilles.
"Die allerwichtigste Kraftquelle für Familien ist allerdings – so banal es klingt – eine positive Einstellung zum Leben", betont die Buchautorin. Vermittelten die Eltern die mutmachende Sicht "Das schaffen wir schon", verkrafteten auch Kinder Härten im Familienalltag besser. Eltern müssten dafür sorgen, ihre Lebensfreude zu erhalten, auch indem sie Hobbys und soziale Kontakte weiterhin pflegen. "Das ist ihre oberste Pflicht. Eine selbstlose Mutter ist ihr Selbst bald los und dann keine gute Mutter mehr", sagt Achilles.
Treten größere Probleme bei den Geschwistern auf, wie Bettnässen oder Essstörungen, empfiehlt die Expertin, psychotherapeutische Hilfe zu suchen. "Diese Alarmzeichen dürften nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn sie zeigen, dass ein Kind übermäßig leidet", sagt sie. Empfehlenswert seien die in einigen Städten angebotenen mehrtägigen Geschwisterkurse, wo sich Kinder mit anderen "Leidensgefährten" austauschen und gegenseitig Tipps geben können. Die wenigsten Geschwister allerdings entwickelten sich zu Risikokindern. Die Mehrheit wachse zu aufmerksamen, kompetenten und sehr empathischen Menschen heran.
dapd