Hiddensee (dapd). Die Ostsee ist glatt und der feine Sandstrand menschenleer. Bis auf das Gekreische einer Möwe herrscht absolute Stille. Alfred Langemeyer beobachtet genüsslich, wie die untergehende Sonne die Westküste Hiddensees in ein rötliches Licht taucht. Nach einiger Zeit sagt er: „Von mir werden Sie nichts Negatives über andere Inseln hören. Aber hier ist es am schönsten.“

Ihm genügt Hiddensee, wo der gebürtige Westfale seit über 15 Jahren Kurdirektor ist. Hier am Südzipfel scheint das Eiland nicht viel mehr als eine Sandbank, die dem mächtigen Rügen vorgelagert ist. Zwar baut sich hinter dem Strand eine Steilküste auf. Die aber ist nur etwa fünf Meter hoch. Oben soll Kiefernbewuchs verhindern, dass das kostbare Land wegbricht – und Hiddensee noch schmaler wird, als die ohnehin schon knappen 300 Meter.

Wenn Langemeyer mal nach etwas anderem zumute ist, muss er die Fähre oder das Wassertaxi nehmen. Anders als Rügen ist Hiddensee nicht per Brücke mit dem Festland verbunden. Nach rund 90 Minuten ist er dann in Stralsund, der ehrwürdigen Hansestadt, die sich nach der Wende wieder fein herausgeputzt hat. Doch das Bedürfnis nach Stadtluft verspürt Langemeyer nur selten.

Nach der kleinen Meditation am Strand besteigt der Kurdirektor sein Velo. „Ich verfluche mich manchmal, dass ich mein Hollandrad nicht mehr benutze“, sagt er, „aber diese E-Bikes sind einfach zu praktisch“. Genau genommen sind die Gefährte das Transportmittel Nummer eins. Die Insel ist autofrei – und als eine Art Schnellstraße von Nord nach Süd fungiert eine Piste, die zu einem guten Teil mit Betonplatten aus DDR-Produktion ausgelegt ist.

Auf dem Weg nach Norden passieren wir Plogshagen, das schon im 13. Jahrhundert besiedelt wurde. „Von Westfalen“, wie Langemeyer nicht ohne Genugtuung sagt. Der Ort besteht aus ein paar versprengten Bauernhäusern, von denen einige mit bilderbuchhaften Reetdächern gedeckt sind. Der Rest der 1.036 Einwohner bezeichnet die hiesige Bevölkerung als „Süder“. Angeblich sprechen die Leute hier sogar einen wahrnehmbar abweichenden Dialekt.

Ein kleines Fischereimuseum erinnert an den harten Broterwerb früherer Zeiten. 1872 etwa mussten die Bewohner einer Sturmflut standhalten, welche die Insel kurzzeitig in zwei Hälften geteilt hatte. Heute verdienen noch 13 wortkarge Fischer ihr Geld mit dem Beruf der Vorfahren. Sonst lebt Hiddensee vom Tourismus, auch wenn die Zahl der Betten 3.000 nicht übersteigt. Seit dem frühen 20. Jahrhundert kamen immer mehr Intellektuelle und Künstler hierhin. Auch in Zeiten des Sozialismus konnten Andersdenkende zuweilen unter sich sein.

Es ist nicht jedermanns Sache, seinen Urlaub auf Hiddensee zu verbringen. Das weiß auch der Kurdirektor. Mondän wie Sylt sei die Insel nicht, sagt er, während eine Kutsche vorbeizieht, die ein paar Gäste im Hotel Heiderose abliefert. Und auch die Gastronomie bewege sich nicht auf höchstem Niveau. Das aber bedeute nicht, dass die Natur die einzige Sehenswürdigkeit auf der Insel sei. Am nächsten Morgen werde er zeigen, was es damit auf sich habe.

Gegen 10.00 Uhr nehmen wir die E-Bike-Autobahn in Richtung Norden. Am Ortsrand von Vitte passieren wir zunächst das „Karusel“, eine beschwingt wirkende Variante des traditionellen Inselhauses. Hier verbrachte in den 20er und 30er Jahren die dänische Stummfilmschauspielerin Asta Nielsen ihre Sommer. Heute hat das Domizil Patina angelegt, abgesehen von gelegentlichen Besichtigungen es ist eine ungenutzte Attraktion.

Ein paar Kilometer weiter nördlich in Kloster jedoch steht ein Publikumsmagnet: das Gerhart-Hauptmann-Haus. Das Anwesen des Dichters und Dramatikers liegt in kaum verändertem Zustand unter alten Bäumen auf einer leichten Anhöhe. Wie Franziska Ploetz, Leiterin der Institution, erzählt, hat auch Hauptmann (1862-1946) immer wieder die Sommermonate auf Hiddensee verbracht. Zur Bewirtung prominenter Gäste wie Thomas Mann legte er sich einen stattlichen Weinkeller an. Unvergessen, so Ploetz, sei der Ausspruch des Schriftstellers, dass zwei Flaschen Wein, ein wenig Sekt und ein bisschen Cognac für einen Mann keine übertriebene Tagesdosis sind.

Hinter Kloster baut sich dann ein anderes Hiddensee auf: Die Insel ist am Nordende fast vier Kilometer breit. Und es geht plötzlich so steil bergauf, dass der elektronische Hilfsmotor am Fahrrad angebrachter denn je erscheint. Immerhin 72 Meter ist der Bakenberg hoch und die Betonplatten machen den Anstieg nicht leichter. Die Inselbewohner aber lieben laut Langemeyer ihren Felsen, ist er doch Garant dafür, dass es auf dem Eiland immer einen Zufluchtsort vor den Sturmfluten der Zukunft geben wird.

Besonders schön ist die Aussicht vom örtlichen Leuchtturm, der an klaren Tagen einen Blick über die längliche Insel bis hin nach Stralsund gestattet. Wer sich gen Osten wendet, sieht Rügen, das per Fähre erreichbar ist. Auch über diese Insel wird Alfred Langemeyer nichts Negatives sagen. Denn er war noch nie da bis zu diesem Tage.

dapd