Berlin (dapd). Vom Pflegeengel zur Angst-Gestalt: Jahrelange Aufopferung von Pflegern kann sich eines Tages in Aggressionen und Gewalt gegenüber Bedürftigen entladen. "Pflegende beginnen zwar immer mit viel Engagement und den besten Absichten", sagt Familienberaterin Gabriele Tammen-Parr. "Aber irgendwann kommt bei vielen der Moment, an dem sie ihren Angehörigen plötzlich anschreien oder den Impuls unterdrücken müssen, ihn zu schlagen." Pflegende schämten sich in solchen Situationen für ihre Wut. Die Expertin der Beratungsstelle Pflege in Not in Berlin rät dennoch dazu, die negativen Gefühle nicht zu leugnen: "Aggressionen blühen sonst im Verborgenen weiter", warnt sie.
Überforderung macht aggressiv
Aggressive Gefühle entstehen durch körperliche und seelische Überforderung. Sie sind ein wichtiges Signal dafür, die Beziehung zum bedürftigen Angehörigen zu überdenken, erklärt Gabriele Tammen-Parr. Statt die Emotionen wegzudrücken, sollten Betroffene die Situation ernst nehmen. Es sei nun an der Zeit, sich selbst wichtige Fragen zu stellen: Bin ich überfordert? Fehlt mir etwas? Hat sich etwas in der Beziehung zwischen mir und dem Pflegebedürftigen geändert? Brauche ich Unterstützung? Die Hauptfrage allerdings sei: Will ich das noch? Gerade vor dem Gedanken, den Bedürftigen in ein Heim zu geben, schreckten viele letztlich zurück.
Eine besondere Herausforderung für Pfleger sind Demenzkranke. "Wenn ein Mensch mit diesem Leiden die Medikamenteneinnahme immer wieder verweigert oder seinen Partner zum x-ten Mal am Tag fragt, wer er ist, wird der emotional an seine Grenze gebracht", sagt Tammen-Parr. Manchmal verhielten sich die Bedürftigen selber aggressiv. Sie beleidigten dann auch den Pfleger, stellten ständig Forderungen oder gäben sich konstant unkooperativ.
Angehörige sollten Heimunterbringung erwägen
Allerdings verberge sich nicht hinter jedem Streit und laut ausgesprochenen Wort latente Gewaltbereitschaft. "Erst wenn sich aggressive Fantasien wie ein roter Faden durch den Tag ziehen, hat sich dieses negative Gefühl manifestiert", klärt Pflege-Expertin Tammen-Parr auf. "Aggression" bedeute, den anderen zu entwerten, ihm zu drohen und ihn in seiner Person zu beschädigen. Auch absichtliche Vernachlässigung, etwa dem Pflegebedürftigen bewusst Dinge zu entziehen, sei eine Form von Gewalt. Nicht zu verwechseln ist diese der Expertin zufolge mit sogenannter passiver Vernachlässigung, bei der Angehörige die Pflege aus Überforderung und ohne böse Absicht nicht mehr im vollen Umfang gewährleisten können.
Gabriele Tammen-Parr rät dazu, aggressive Momente in Pflegeverhältnissen nüchtern zu analysieren: In welchen Situationen treten sie auf – zum Beispiel bei Körperpflege oder Medikamentengabe? Dann sei es ratsam, für diese Tagesabschnitte die Hilfe eines Pflegedienstes in Anspruch zu nehmen. Entlastung könne auch die stundenweise Unterbringung in einer Tages- oder die Beantragung von Verhinderungspflege bringen. Beratung zur finanziellen Abdeckung bieten der Expertin zufolge Pflegestützpunkte an. Pflegekassen bezahlten zudem Berater, die nach Hause kommen und dort eventuell Anregungen für entlastende Veränderungen in der Häuslichkeit geben können. Selbst der Gedanke an eine Unterbringung im Heim sollte zugelassen werden, empfiehlt Tammen-Parr: "Das bedeutet keinen Kontaktabbruch, sondern kann für beide Seiten eine Erleichterung sein."
dapd